Wasserkraft: Wenn künstliche Fluten Flussbewohner stressen

Veränderungen des Pegels durch Wasserkraftanlagen schaden den betroffenen Gewässerökosystemen. Forscher in Lunz untersuchen, wie sich der sogenannte Schwallbetrieb auswirkt, und entwickeln Ideen zum Ausgleich.

Lunz – Man sieht es an der Salzach, am Inn oder an der Drau: Wo vor wenigen Stunden noch Kiesbänke sichtbar waren, steht nun plötzlich alles unter Wasser. Bald jedoch wird der Pegel wieder fallen. Küstenbewohnern ist ein solcher rhythmischer Wechsel bestens vertraut – sie nennen es Ebbe und Flut. Aber seit wann gibt es in Alpenflüssen Gezeiten?

Wasserkraft macht's möglich. Über Staustufen und Speicherseen wird reichlich Energie erzeugt. Die abfließenden Fluten treiben Turbinen an und diese wiederum Stromgeneratoren. Der Elektrizitätsbedarf indes schwankt über den Tagesverlauf, und die Kraftwerksbetreiber stellen sich darauf ein. Bei steigender Nachfrage, zum Beispiel am frühen Abend, fahren sie die Produktion hoch. Mehr Wasser muss fließen. Infolgedessen steigt logischerweise auch der Flusspegel sprunghaft an.

Fachleute bezeichnen diesen Modus als Schwallbetrieb. Der so erzeugte Strom mag allgemein als umweltfreundlich, weil erneuerbar, gelten, ökologisch gesehen, verursacht er allerdings seine ganz eigenen Probleme. Denn anders als Küstenkreaturen sind Süßwassergeschöpfe so gar nicht an Gezeiten angepasst.

"Wir haben in Österreich fast 800 Flusskilometer, die massiv vom Schwallbetrieb beeinträchtigt sind", sagt der Biologe Thomas Hein vom Wassercluster Lunz, einem Forschungsinstitut an dem die Universität Wien, die Donau-Uni Krems und die Wiener Universität für Bodenkultur beteiligt sind. Die Auswirkungen der Schwankungen seien trotzdem nur unzureichend untersucht. Hein und seine Kollegen wollen hier Abhilfe schaffen. Die Wissenschafter haben mit finanzieller Förderung seitens der EU ein neuartiges Flussmodell entwickelt. Verschiedene Faktoren des Schwallbetriebs lassen sich darin simulieren.

Die Anlage besteht im Wesentlichen aus zwei Kiesrinnen plus einem Verteilersystem. Letzteres zieht Wasser aus dem nahegelegenen Lunzer See an und leitet es in die beiden künstlichen Flussbetten ein. Durch Entnahme in unterschiedlichen Wassertiefen lassen sich zudem Temperaturschwankungen nachstellen. Unten ist es, zumindest im Sommer, deutlich kälter als an der Oberfläche des Sees.

In ersten Versuchsreihen studierte das Team unter anderem die Entwicklung des Algenwachstums unter Schwallbedingungen. Normalerweise wird die Flora alpiner Fließgewässer von Diatomeen, sprich Kieselalgen, dominiert. Zusammen mit Bakterien und Pilzen bilden diese Einzeller sogenannte Biofilme – jene glitschigen Schichten, die Steine in Bächen und Flüssen überziehen und leicht zu Rutschpartien führen. Bei erhöhten Nährstoffeinträgen, zum Beispiel aus der Landwirtschaft oder ungeklärten Abwässern, treten vermehrt Grünalgen auf den Plan. Mitunter bilden sie sogar üppige Matten. Eine solche Zunahme konnten die Lunzer Forscher in der Anlage nachstellen, allerdings nur bei naturnahen Strömungsverhältnissen. Schaltete man auf Schwallbetrieb, hatten die Grünalgen das Nachsehen. Die Diatomeen behielten ihre Vorherrschaft.

Kieselalgen sind geschützt
"Kieselalgen kommen offenbar besser mit dem hydrologischen Stress klar", sagt Hein. In ihrer Schleimmatrix sind sie besser geschützt als die exponierten Grünalgen. Besonders interessant ist jedoch, dass sich in diesem Fall die Auswirkungen zweier unterschiedlicher ökologischer Störungen – Schwall und Überdüngung – gegenseitig aufheben. Die Verschmutzung bleibt unsichtbar. Wirklich positiv ist dieser Effekt gleichwohl nicht, wie Hein betont. Die überschüssigen Nährstoffe werden in Ermangelung von Grünalgen kaum abgebaut und belasten stromabwärts das Ökosystem. "Man verlagert das Problem weiter nach unten."

Auch die wirbellosen Flussbewohner leiden offensichtlich unter den künstlichen Fluten. In der Lunzer Versuchsanordnung setzte man typisches Bachgetier ein und beobachtete dessen Reaktionen. Ein Teil der Krabbler wurde bei Schwallbetrieb fortgeschwemmt, viel mehr als in der Kontrollrinne mit normalem Abfluss. Stark betroffen waren unter anderem die gehäusebauenden Köcherfliegenlarven, ein überaus wichtiges Glied in der Nahrungskette von Fließgewässern. Abgesehen davon drifteten wesent- lich mehr Tiere ab, wenn der Schwall nach Einbruch der Dunkelheit eintraf. Süßwasserwirbellose sind eher nachtaktiv, erklärt Hein. Um den Augen hungriger Fische und Vögel zu entgehen, verkriechen sie sich tagsüber meist im Flussbett. Erst gegen Abend trauen sie sich wieder nach oben. "Genau dann wird zum Teil auch die Stromproduktion hochgefahren."

Dämpfer für Fluten
Jungfischen hingegen droht vor allem bei schnell fallendem Pegel Gefahr. Man ließ einsommerige Äschen in den Rinnen schwimmen und stellte fest, dass die kleinen Lachsfische nach einer Stoßwelle leicht stranden können – mit potenziell fatalen Folgen. Die Anwesenheit tiefer Gumpen im Kies verringert dieses Risiko, aber nur tagsüber. In der Nacht fehlt den Fischen womöglich die Orientierung.
Die negativen Folgen des Schwallbetriebs können durchaus verringert werden, ohne gleich die Wasserkraft aufzugeben, wie Hein betont. Durch die Einrichtung von Ausgleichsbecken lassen sich zum Beispiel die Fluten dämpfen. Einen vergleichbaren Effekt würde das langsamere Steuern der Energieproduktion bewirken. Am wichtigsten sei jedoch die Sanierung der Gewässer unterhalb der Anlagen. Verbauung habe gewaltige Schäden verursacht und die Flussökosysteme praktisch wehrlos dem Schwall ausgesetzt, meint Hein. "Je monotoner die Uferzonierung, desto anfälliger." Durch strukturelle Renaturierung müssen Rückzugsräume für Flora und Fauna geschaffen werden. "Es gibt viel Raum für Optimierung". (Kurt de Swaaf, 15.8.2016)

(Quelle: derStandard.at)

Trockengelegter Flussabschnitt incl. Fischaufstieg in der Ager Vöcklabruck im Herbst 2015

 


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